Polyamorie-Online-Konferenz: Unser jährlicher Liebesbrief an die Polyamorie
Konferenzbericht der Polyamoriekonferenzen 2023 und 2024
Ein Beitrag zur Normalisierung alternativer Beziehungsmodelle
Abstract : Zusammenfassung
Jeden November veranstalten Leonie Henning und Annika Ackermann online die aktuell einzige deutschsprachige, jährliche Polyamorie-Konferenz. Mit Beiträgen von Expert*innen aus Beratung und Therapie soll diese praxisorientierte und politische Veranstaltung zur Entstigmatisierung beitragen. Wissensvermittlung über nicht-monogame Beziehungsmodelle und deren Herausforderungen wird einem gemischten Publikum aus interessierten Personen und psychosozialem Fachpersonal zugänglich gemacht. Im Artikel werden ausgewählte Beiträge und deren konkreter Praxisbezug vorgestellt.
Einleitung
In Deutschland und Österreich gab es (soweit den Autorinnen bekannt) bisher nur einmalige Polyamorie-Konferenzen und diese fanden auf Englisch statt. Die USA dominiert bisher mit sehr erfolgreichen Büchern, Podcasts und Influencer*innen den kulturellen Polyamorie-Diskurs und dort finden zwei Konferenzen jährlich statt.
Wir, Annika Ackermann und Leonie Henning, veranstalten seit 2023 die einzige deutschsprachige jährliche Konferenz zu Polyamorie. Die Beiträge stammen von Berater*innen und Therapeut*innen aus dem von uns gegründeten Expert*innen-Netzwerk Polyamorie (ENP). Gast-Sprecher*innen laden wir auch aus anderen Tätigkeitsfeldern wie Jura, Sozialarbeit und Philosophie ein. Als praxisorientierte und politische Veranstaltung hat die Konferenz das Ziel, Polyamorie zu normalisieren und Personen, die Polyamorie praktizieren (wollen) sowie psychosozialem Fachpersonal einen Einblick in die Praxis und konkrete Hilfen zu bieten.
Überblick über die Konferenz
Durch die folgenden Kurzzusammenfassungen möchten wir einen Einblick in das Konferenzgeschehen der ersten zwei Jahre sowie die Relevanz für die Beratungspraxis vermitteln.
In Leonie Hennings Beitrag “Poly-Mono-Beziehung: (D)ein Fahrplan zum Erfolg”, betrachtet sie zwei zentrale Fragen: Wie können Menschen, die neu in diesem Bereich sind (die "Monos"), sich mit dem Konzept von Polyamorie auseinandersetzen und herausfinden, ob es für sie geeignet ist? Und wie können Menschen, die bereits Erfahrungen mit Polyamorie haben (die "Polys"), Beziehungen mit monogamen Menschen gestalten?
Sie beschreibt die Herausforderungen für beide Seiten. Die "Monos" haben oft noch keine festen Überzeugungen oder Erfahrungen in Bezug auf nicht-monogame Beziehungsformen. Sie stehen vor der Entscheidung, ob sie sich auf Polyamorie einlassen oder in einer monogamen Beziehung bleiben möchten. Die “Polys” haben in der Regel einen langen Prozess durchlaufen, in dem sie ihre Identität und Bedürfnisse in Bezug auf Polyamorie erkundet haben. Nun müssen sie überlegen, wie sie diese Erfahrungen mit einer monogamen Partner*in teilen und ob eine gemeinsame Beziehung möglich ist.
Leonie Henning betont, dass offene und ehrliche Kommunikation essenziell ist, damit beide Seiten verstehen, was die andere Person anbietet und was für eine Beziehung möglich ist. Sie hebt hervor, dass der Prozess der Annäherung Zeit und emotionale Ressourcen erfordert. Gerade zu Beginn einer offenen Beziehung ist es wichtig, viel Zeit und Aufmerksamkeit zu investieren, um Missverständnisse und potenziellen Schmerz zu vermeiden, falls sich herausstellt, dass die unterschiedlichen Lebensvorstellungen nicht kompatibel sind.
Zusammenfassend geht es darum, frühzeitig die Tragfähigkeit einer potenziellen Beziehung abzuschätzen und die eigenen Bedürfnisse und Kapazitäten ehrlich zu reflektieren, um herauszufinden, ob eine monogame oder polyamore Beziehung für beide Partner*innen erfüllend sein kann.
Relevanz für die Beratungspraxis: Es ist es wichtig, dass Beratende erkennen, dass viel Eigenarbeit geleistet werden muss und niemand an dieser Arbeit und der eigenen Positionierung vorbeikommt. Beratende können dabei unterstützen, die emotionalen Wogen zu glätten. Der Beitrag zeigt den konzeptionellen Unterbau davon, was in einem Identitätsfindungsprozess passieren kann und sollte. Beratende stellen einen Raum zur Verfügung, in dem diese Arbeit geleistet werden kann.
In Annika Ackermanns Beitrag “People Pleasing Polys: Was tun, wenn die V-Spitze zu nett ist? ” erläutert sie, dass People Pleasing von der V-Spitze (die Person, die zwei Menschen datet) in polyamoren Beziehungen zu Problemen führen kann.
Annika Ackermann definiert People Pleasing als das Verhalten, es anderen Menschen recht machen zu wollen, oft auf eigene Kosten. Menschen tun dies z.B., um Konflikte zu vermeiden, als positiv wahrgenommen zu werden oder aus Angst vor negativen Konsequenzen wie Enttäuschung oder Wut anderer. Dieses Verhalten ist zu einem gewissen Grad normal, kann jedoch problematisch werden, wenn es zur Gewohnheit wird und die eigene Meinung, Bedürfnisse und Grenzen dauerhaft ignoriert werden.
People Pleasing kann das Ergebnis von dysfunktionalen Familiendynamiken oder von Trauma sein. So kann in der Kindheit die Erfahrung gemacht worden sein, dass Liebe an bestimmte Verhaltensweisen gekoppelt ist. Oft erkennen Betroffene dieses Muster nicht als problematisch an, da es gesellschaftlich als „nett“ oder „fürsorglich“ bewertet wird - besonders bei Menschen, die weiblich sozialisiert wurden.
In polyamoren Beziehungen, besonders wenn eine Person die V-Spitze bildet, kann People Pleasing sehr heikel sein. Wenn die V-Spitze den zwei Partner*innen Versprechungen macht, die unvereinbar sind (z.B. mit Person A “Dieses Wochenende verbringen nur du und ich ungestört” und mit Person B “Wir telefonieren dieses Wochenende miteinander”), lädt dies Konflikte, gebrochenen Abmachungen oder Heimlichtuerei ein. Das führt zu Enttäuschung und der Gefahr, dass Person A und B wütend aufeinander werden, obwohl das eigentliche Problem beim People Pleasing der V-Spitze liegt.
Der Weg, People Pleasing zu überwinden, ist ein langer Prozess.. Es erfordert, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen, Grenzen zu setzen und auszuhalten, dass das Gegenüber möglicherweise enttäuscht oder wütend ist. Wichtig ist, dieses Verhalten transparent zu machen und offen mit Partner*innen darüber zu sprechen. Annika Ackermann schlägt vor, weiche Abmachungen zu treffen, nachzuverhandeln und sich Zeit zu nehmen, um herauszufinden, was man wirklich will.
Relevanz für die Beratungspraxis: Wenn ein bisher monogames Paar ihre Beziehung öffnen möchte, ist es besonders wichtig herauszufinden, ob People Pleasing Teil der Beziehungsdynamik ist. Was in einer Zweier-Dynamik augenscheinlich funktioniert hat, wird es in einer Dreier-Konstellation nicht länger tun. Die Dysfunktion wird zum lauten Störfaktor und kann zu Missverständnissen, gebrochenen Versprechen und Verletzungen bei allen Beteiligten führen.
Die Berater*in kann Menschen, die people pleasen, dabei unterstützen, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, sie klar zu kommunizieren und mutiger in Konflikte zu treten. In der Paarberatung kann der Fokus auf der Musterunterbrechung liegen und im Beleuchten der Rolle der Partnerperson, die das People Pleasen aufrecht erhält.
In Sonja Jünglings Beitrag “Transparenz in offenen Beziehungen” definiert sie Transparenz als bewusst reflektierte Kommunikation, die über Ehrlichkeit und Offenheit hinausgeht, indem nur das geteilt wird, was zum gegenseitigen Verständnis notwendig ist, ohne zu überfordern. Sie betont, dass Transparenz kontextabhängig ist und erfordert, die eigenen Gefühle und Bedürfnisse klar zu verstehen und zu kommunizieren.
Das Thema ist besonders relevant in der Polyamorie, weil Gesagtes verletzen kann und Privatsphäre ein großes Thema ist. Viele Konflikte und verletzte Gefühle entstehen, weil Zurückhaltung (“Ich möchte meine Partnerperson mit der Information nicht verletzen”, “Ich warte auf den richtigen Moment”, “Ich glaube nicht, dass diese Information für dich notwendig ist”) als Geheimnis wahrgenommen wird (“Du hast mich angelogen bzw. mir diese für mich relevante Information vorenthalten”). Das kommt durch die höhere Komplexität eines Mehrpersonensystems häufiger vor als in monogamen Beziehungen.
Die Auseinandersetzung mit Transparenz und Informationsweitergabe ist unumgänglich in der Polyamorie. Es ist ein komplexes Thema, welches einen dazu zwingt, die eigenen Annahmen auf den Prüfstand zu stellen. Dies ist innere Arbeit und erfordert viel Übung.
Sonja Jüngling beginnt mit der Definition von Transparenz als „Durchsichtigkeit“ – das Offenlegen dessen, was hinter den Worten steht. Sie unterscheidet Transparenz von Ehrlichkeit und Offenheit: Ehrlichkeit bedeutet, das zu sagen, was man als wahr empfindet, während Offenheit bedeutet, auch unerwartete Informationen von sich aus zu teilen. Transparenz, so erklärt sie, geht über diese beiden Konzepte hinaus, indem sie gezielt nur so viel preisgibt, wie für das Verständnis des Gegenübers notwendig ist, und gleichzeitig nicht überfordert.
Ehrlichkeit und Transparenz sind zudem kontextabhängig. Es hängt davon ab, in welcher Situation man sich befindet, welche Erwartungen das Gegenüber hat und wie es einem selbst gerade geht. Sonja Jüngling betont, dass man nicht immer alles im Detail sagen muss, sondern abwägen sollte, was notwendig ist, um dem anderen nicht zu schaden oder ihn zu überfordern. Transparenz ist zudem ein Angebot: Man kann dem Gegenüber die Möglichkeit geben, nachzufragen, wenn es mehr wissen möchte.
Sonja Jüngling unterstreicht auch, dass Selbstreflexion eine wichtige Voraussetzung für Transparenz ist. Um ehrlich und transparent zu kommunizieren, muss man seine eigenen Gefühle und Bedürfnisse gut verstehen und klar trennen können von den Gefühlen und Bedürfnissen anderer. Viele Menschen haben Schwierigkeiten, ihre Emotionen richtig zu deuten, da sie in der Kindheit gelernt haben, ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten von gesellschaftlichen Normen oder Erwartungen zurückzustellen. Transparenz setzt daher voraus, dass man sich seiner Emotionen bewusst ist und sie angemessen einordnen kann.
Relevanz für die Beratungspraxis: Beratende müssen die Hürden kennen, die transparenter Kommunikation im Weg stehen. Klient*innen werden sich tendenziell schwer tun und Fehler machen. Es kann schnell verwirrend werden für alle, besonders, wenn bereits Gefühle verletzt wurden. Transparente Kommunikation schließt jedoch ein Recht auf Privatsphäre nicht aus.
Eine wichtige Voraussetzung für Transparenz ist die Auseinandersetzung mit Autonomie als ein zentraler Teil des Identitätsfindungsprozesses. Sprich: Transparenz kann darüber stolpern, dass Klient*innen noch an Fragen wie “Darf ich Polyamorie überhaupt wollen?” festhängen.
Christina Gesing beschreibt in ihrem Beitrag “Safer Heart Talk: Wie schütze ich mein Herz?
” den "Safer Heart Talk" als Gesprächsleitfaden, der es Menschen ermöglicht, ihre Beziehungswünsche offen zu besprechen und dadurch Missverständnisse zu vermeiden.
Das Gesprächsformat ermöglicht ein Abgleichen der Beziehungsvorstellungen von zwei oder mehr Menschen. Inspiriert durch Safer-Sex-Verhandlungen aus dem Kink-Bereich, ist das Ziel, Klarheit über Wünsche, Grenzen und Erwartungen in Beziehungen zu gewinnen.
Christina Gesing erklärt, dass das Werkzeug aus einer Vielzahl von Fragen besteht, die an die individuelle Situation angepasst werden können. Diese Fragen betreffen Identität, Beziehungsstrukturen, aktuelle Beziehungssituationen, Sehnsüchte, Grenzen und bestehende Absprachen. Das Format kann sowohl für kurze Check-ins als auch für ausführliche, intime Gespräche genutzt werden.
Das Konzept des Safer Heart Talks entstand aus der Notwendigkeit, eine Vielfalt an Beziehungsformen zu reflektieren und zu navigieren, besonders in einer Zeit, in der viele Menschen traditionelle monogame Modelle hinterfragen. Christina Gesing betont, dass es wichtig ist, offen über die eigenen Vorstellungen zu kommunizieren, um Missverständnisse zu vermeiden.
Für diejenigen, die interessiert sind, diesen Gesprächsansatz auszuprobieren, empfiehlt sie, einladende Formulierungen zu nutzen, um das Gespräch zu beginnen, anstatt mit "Wir müssen reden" einzuleiten. Ein geeigneter Zeitpunkt kann sein, bereits in Dating-Apps grundlegende Informationen über den Beziehungsstatus zu teilen. Es gibt nicht das eine Gespräch, sondern eine Reihe von Gesprächen, die sich über Zeit entwickeln und vertiefen können.
Relevanz für die Beratungspraxis:
Der Safer Heart Talk kann sowohl Klient*innen als Hausaufgabe empfohlen werden, als auch in der Beratung selbst genutzt werden. Gemeinsam Fragen und Antworten zu erarbeiten ist ein wertvolles Werkzeug für die Selbstreflektion, das hilft, blinde Flecken und Annahmen aufzudecken.
Beratende können den Safer Heart Talk auch nutzen, um die eigene Haltung zu überprüfen.
Kim Begemann spricht im Beitrag “Eifersucht als Chance” darüber, dass Eifersucht in offenen oder polyamoren Beziehungen ein normales Gefühl sein kann. Wir sollten Eifersucht nicht als etwas Negatives oder Vermeidbares betrachten, sondern als ein Gefühl, das wichtige Hinweise auf unerfüllte Bedürfnisse oder Unsicherheiten gibt. Um mit Eifersucht umzugehen, ist es essentiell, das Gefühl anzuerkennen und offen darüber zu sprechen.
Ein möglicher erster Schritt ist es, Gefühle zu benennen und zu reflektieren, was genau die Eifersucht auslöst. Liegt es an spezifischen Aktivitäten, die mit anderen Personen unternommen werden, oder eher an einem tiefer liegenden Bedürfnis nach Aufmerksamkeit oder Sicherheit? Ebenso könnte Spontaneität eine Rolle spielen: Manche Menschen bevorzugen klare Planung, während spontane Veränderungen bei anderen Unsicherheiten hervorrufen können. Diese unterschiedlichen Bedürfnisse sollten offen besprochen und abgestimmt werden, damit alle Beteiligten sich wohlfühlen.
Je mehr Sicherheit besteht, desto seltener wird Eifersucht ein großes Thema. Klare Verhältnisse in der Kommunikation können hier helfen. Eine häufige Quelle unklarer Verhältnisse ist die Metamourkommunikation (Ein*e Metamour ist die Partnerperson meiner Partnerperson). Manchmal kommt es vor, dass eine Person den direkten Kontakt zu Metamours ablehnt. Dies kann die Kommunikation erschweren, da Bedürfnisse und Anliegen nur indirekt übermittelt werden können, was zu Missverständnissen führen kann. Direkter Metamourkontakt ist optional, erleichtert aber häufig das Verständnis und bietet die Möglichkeit, positive Erfahrungen zu machen, die das Vertrauen stärken.
Ebenso wichtig wie die Verbesserung der Kommunikation ist die Reparatur bereits entstandener Verletzungen oder Missverständnisse. Es kann helfen, gezielt kleine Schritte zu gehen, um das Vertrauen wieder aufzubauen.
Relevanz für die Beratungspraxis: Eifersucht ist kein Indikator dafür, ob jemand für Polyamorie geeignet ist oder nicht. Eifersucht ist ein Knäuel aus Gefühlen (darin können u.a. Neid, Trauer, Wut, Verwirrung, Ekel, Ängste enthalten sein). Die darunter liegenden Bedürfnisse zu identifizieren und den Umgang mit starken Gefühlen zu lernen ist eine wertvolle Fähigkeit, unabhängig vom Beziehungsmodell.
Beratende können Klient*innen dabei helfen, Glaubenssätze in beide Richtungen zu hinterfragen (sowohl “Wer eifersüchtig ist, ist kein guter Poly” als auch “Wenn du nicht eifersüchtig bist, heißt das, dass du mich nicht liebst”).
Ausblick
Im dritten Jahr blicken wir vermehrt auf mögliche Verbesserungen. Uns fehlt Diversität in den Stimmen, die wir zu Wort kommen lassen und Barrierefreiheit ist noch nicht gegeben. Durch den Fokus auf zwei unterschiedliche Zielgruppen kann es außerdem zu einer mangelnden Passgenauigkeit kommen. Es kann sein, dass manche Beiträge für Berater*innen und Therapeut*innen inhaltlich zu banal sind und andere Beträge für privat interessierte Personen zu viel Fachjargon enthalten.
Unser Ziel ist es, die Polyamorie-Online-Konferenz stetig weiterzuentwickeln und zu einem festen Bestandteil des Weiterbildungs-Kalenders von Fachpersonal und der Poly-Community zu machen.
Autorinnen: Annika Ackermann und Leonie Henning